Wahrnehmung und Wahrheit
„Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Monat lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“
Dieses Sprichwort der Indianer Nordamerikas fiel mir ein, als ich dieser Tage über die vielfach zu verzeichnende Diskussionskultur – nicht nur, vor allem aber im Zusammenhang mit Corona – sinnierte. Und ich dachte an eine Vielzahl von Gesprächen, die ich selbst hierzu geführt hatte.
Ich sah noch einmal einen Bekannten vor mir, der mir von der Angst um sein Kind erzählte, welches mit einer Vorerkrankung als Risikopatient gilt.
Ich erinnerte mich an ein Telefonat mit einem Künstler, der nicht weiß, wie lange er seinen Status noch halten kann, wenn er nicht in absehbarer Zeit wieder Veranstaltungen durchführen darf.
Mir kam der Gedanke an ein Gespräch mit einem Seelsorger, der rund um die Uhr Menschen hilft, die mit der Einsamkeit, der Furcht oder der plötzlichen Arbeitslosigkeit nicht zurechtkommen.
Und ich dachte auch an den Anruf bei einer Unternehmerin, die mir davon berichtete, bereits kurz nach der behördlichen Schließung ihrer Firma mit der Umstrukturierung begonnen zu haben und mit einem neuen Konzept im Laufe des Jahres wiederzueröffnen.
Die Erfahrungen dieser und weiterer Menschen haben mich – so unterschiedlich sie sind – berührt und ich kann jede einzelne hiervon annehmen und wertfrei stehen lassen. Denn jeder Mensch hat seine Geschichte und seine Wahrnehmung.
Ich auch. Die Themen Krankheit und Tod beispielsweise begleiten mich familiär und beruflich mein ganzes Leben und ich wurde hierdurch schon früh mit Verantwortung betraut. Dank meiner Ausbildungen und meines Berufes glaube ich, wirtschaftliche und psychologische Aspekte der aktuellen Krise gleichermaßen einordnen zu können. In meiner früheren Anstellung habe ich viel über Systeme, Macht und politische Entscheidungen gelernt und ich weiß auch ganz gut, wie man Öffentlichkeitsarbeit organisiert. Dazu haben mich mein christlicher Glaube, meine Werte und meine Offenheit geprägt und meine Intuition sagt mir in aller Regel, was stimmig ist und wo ich eher skeptisch sein sollte.
Mein Weltbild ist ein sehr komplexes und mir ist bewusst, dass in diesem Kontext einfache Antworten auf die schwierigen Fragen dieser Zeit schier unmöglich sind. Sich dies einzugestehen, zuzugeben, dass keine Entscheidung eine hundertprozentige Sicherheit bietet, es hat für mich mit Stärke zu tun. Vielleicht auch mit Weisheit. Denn: Bei allem, was man wissen mag, bleibt doch Vieles unbekannt.
Die eine Wahrheit gibt es nicht. Nur die persönliche Wahrnehmung.
Wenn wir uns dies ins Bewusstsein holen, werden wir auch anders, respektvoller mit den unterschiedlichen Meinungen und Auffassungen umgehen können, die uns gerade jetzt und in Zukunft begegnen. Das heißt nicht, dass wir nicht für unsere Überzeugungen eintreten sollen und nicht andere Menschen für das gewinnen dürfen, was wir für richtig halten. Ganz und gar nicht. Was uns allen aber nicht weiterhilft, sind Ideologisierung und Moralisierung, persönliche Angriffe und Diffamierungen und erst recht nicht Kriegsrhetorik und so genannte Totschlagargumente.
In unserer Lokalzeitung habe ich gestern eine Kolumne gelesen, die mir aus dem Herzen spricht. Hierin heißt es unter anderem:
„Wer über Grundrechte diskutieren will, dem sind Menschenleben und Patienten natürlich nicht egal. Andererseits ist Deutschland selbstverständlich keine Diktatur, wenn auf Zeit einige Grundrechte eingeschränkt werden.“
Im fairen, verständnisvollen Austausch, im Kleinen wie im Großen, gemeinsam über bestmögliche Lösungen zu diskutieren, es sollte für eine gebildete, zivilisierte Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sein.
Denn es geht um jeden einzelnen Menschen. Und letztlich um uns alle.